“Was würde Frida tun? 55 Life Lessons von den coolsten Frauen der Weltgeschichte” von Elizabeth Foley und Beth Coates (2019)

Nähern wir uns diesem Buch von außen: Es ist auf schwerem Papier gedruckt. Titel und Rücken sind in dickem Karton gefertigt und in der Grundfarbe Pink gehalten, dies wirkt aber nicht schrill oder grell. Die typographische Gestaltung ist souverän, eine schöne Serifenschrift ermöglicht die flüssige Lektüre. Die Schmuckschrift für Überschriften und Zwischentitel ist ebenfalls perfekt und dezent gewählt. Die Illustrationen von Bijou Karman sind in ihrer Zurückhaltung überlegen, schlicht und in kühler Ästhetik gehalten. Alles in allem: ein perfekt gestaltetes Buch, das man mit Freude in die Hand nimmt.

Auch die Grundidee des Buches verheißt Spannendes: Große Damen der Weltgeschichte werden in ihren Lebensläufen daraufhin befragt, was sie heutigen Frauen für ihren Kampf um Aufmerksamkeit und Gleichberechtigung mitgeben können. Oder wie es das Motto der Originalausgabe ausdrückt: “It is time to start channelling the spiky superwomen of history to conquer today.” Und da kommen wir zur Sprache.

Die sprachliche Gestaltung lässt mich grübeln: An wen richtet sich dieses Buch? Einerseits werden Frauen der Geschichte mit sehr differenzierten Anliegen vorgestellt (z. B. Bertha von Suttner, die wie einige andere deutsche Persönlichkeiten speziell für die deutsche Ausgabe aufgenommen wurden). Andererseits kommt der Text in einer auffallenden Rotze-Sprache daher, dass sich die Frage aufdrängt, ob sich Frauen auf einem derart niedrigen Sprachniveau für so komplexe Figuren der Weltgeschichte interessieren. An der Übersetzung liegt es nicht. Wenn man die Ausschnitte der Originalausgabe damit vergleicht, scheint die Tonlage von Katy Albrecht kongenial getroffen zu sein.

Eines ist sicher: Die Zielgruppe ist weiblich. Es geht um Empowerment, Strategiebildung im Kampf um Selbstbehauptung, Lernen aus historischen Vorbildern. Auf den Begriff gebracht: Es handelt sich um feministische Ermächtigungsliteratur. Sympathisch antiquiert könnte man dies angesichts des aktuellen Diskurses finden. Man kann sich aber auch mitten in die spannenden Lebensgeschichten so völlig unterschiedlicher großer Frauengestalten wie Sappho und Frida Kahlo werfen.

Am meisten beeindruckt mich die Geschichte von Rosa Parks, die sich 1955 gegen Alabamas Rassegesetze auflehnte, indem sie einfach sitzenblieb. Gegen die Aufforderung des Busfahrers, einem weißen Mann ihren Sitzplatz abzutreten. So beginnen Revolutionen.

Erlesene Bibliotheken: Geniale AdK-Ausstellung feiert das gedruckte Buch

Die Akademie der Künste am Pariser Platz zeigt noch bis 19. Juni 2019 eine höchst sehenswerte Ausstellung aus ihren Beständen zum Thema Künstler-Bibliotheken.

Als John-Heartfield-Fan finde ich solche Kostbarkeiten natürlich absolut beeindruckend: eine Widmung an “Böff” von seinem Bruder Wieland Herzfelde (im Bild).

Aber auch alle anderen Exponate aus den Bibliotheken von Christa Wolf, Kerstin Hensel, Heinrich Mann und vielen weiteren Autoren*innen und Musikern*innen vermitteln einen abwechslungsreichen Eindruck von den Archivbeständern der Akademie der Künste. Hinter Glas ist sogar das Arbeitszimmer von Anna Seghers originalgetreu nachgebaut und ermöglicht ein plastisches Erleben ihrer Arbeitssituation in Berlin-Adlershof. Zahlreiche Exponate aus dem Samisdat der DDR beleben die breit gefächerte Auswahl und bringen Farbe hinein.

Besonderer Tipp: Unbedingt Zeit nehmen und den aktuellen Interview-Film mit den Print-Liebhabern*innen (und AdK-Mitgliedern*innen) Kathrin Röggla, Ingo Schulze, Wulf Herzogenrath, Nele Hertling und Enno Poppe zum Stellenwert des gedruckten Buches ansehen.

Viele Geschichten und ein sprechendes Haus: Regina Scheers neuer Roman “Gott wohnt im Wedding”

Bildergebnis für gott wohnt im wedding

Regina Scheer gelingt in ihrem neuen Roman “Gott wohnt im Wedding” (2019) etwas Großartiges: Sie erzählt die Geschichte eines Hauses. Es ist aber nicht nur dessen Geschichte, es sind viele Geschichten von Menschen, deren Lebenswege sich mit diesem Haus im Wedding verbinden. Da ist der hochbetagte Holocaust-Überlebende Leo Lehmann, der von Israel nach Berlin kommt, um sich um die Rückübertragung des enteigneten Besitzes seiner verstorbenen Frau zu kümmern. Seine Verfolgungsgeschichte strukturiert die gesamte Romanhandlung. Leos Erinnerungen an das Haus in der Utrechter Straße sind zwiespältig. Hatte er doch dort zusammen mit seinem Freund Manfred Neumann Zuflucht vor der Gestapo gefunden. Sie waren verraten worden. Manfred hatte den Verrat nicht überlebt und war im Polizeigefängnis in der Schulstraße umgebracht worden. Ein Verlust, den nicht nur Leo, sondern auch Manfreds Geliebte Gertrud Romberg, aktuell die letzte Bewohnerin des Hauses aus NS-Zeiten, nie überwunden hat. Doch welche Rolle nahm sie damals ein? War sie die Verräterin?

Die Zeit ist nicht stehengeblieben. Der Wedding hat sein Gesicht von Grund auf verändert. Viele Migranten mit unterschiedlichen Herkunftsgeschichten finden dort heute Zuflucht. Mit den Sinti und Roma nimmt die Autorin eine Verfolgtengruppe in den Blick, die bereits in der NS-Zeit Opfer der herrschenden Macht war. Auch im heutigen Deutschland müssen Sinti und Roma um Anerkennung, Gleichberechtigung und angemessene Wahrnehmung ringen. Die Sintiza und Mittvierzigerin Laila steht für dieses Hin- und Hergerissensein zwischen der (in ihrem Fall polnischen) Heimat, dem neuen Leben in Berlin in dem alten Haus in der Utrechter Straße und der ständigen Unsicherheit, die sich sinnfällig an einer Demonstration von Sinti und Roma am Porajmos-Denkmal am Reichstag zeigt.

Schlüssig trotz (fast zu) vieler Themen

Regina Scheer hat eine ruhige, unaufgeregte, intelligente Art zu erzählen. Ihr gelingt der Spagat, Geschichte und Gegenwart in einer glaubwürdigen Geschichte zusammenzubringen. Mich hat sie sofort in ihren Bann gezogen, ich habe den Roman verschlungen. Dabei geht sie souverän mit der Historie wie mit der aktuellen Migrationsthematik um. Auch die Gentrifizierung, die ihre Krakenarme immer mehr Richtung Berliner Norden schlingt (“Die Mitte der Stadt breitet sich aus.”), kommt nicht zu kurz. Als Wedding-Randbewohner fand ich die Orts- und Detailkenntnis der Autorin absolut faszinierend, das fordert zu einem Kiezspaziergang zwischen Leopoldplatz und Schillerpark mit ihrem Roman in der Hand auf. Manchmal wirken ihre Erklärungen sehr für den Leser konzipiert und so geraten manche Dialoge etwas hölzern. Wenn sich beispielsweise Laila von der jungen, hochschwangeren Roma Suzana zwischen zwei Wehen Details zur europäischen Krankenversicherungsbescheinigung erläutern lässt. Darüber liest man locker weg.

Der Roman enthält neben den spannenden, glaubwürdigen Geschichten so vieles mehr: Warum die Utrechter Straße früher einmal anders hieß? Was es mit dem schützenden Medusenhaupt am Eingangsportal des alten Hauses auf sich hat? Wie das John-Lennon-Gymnasium zu seinem weltweit einmaligen Namen kam? Und noch dazu führt er eine neue Stimme in die Literatur ein, die Stimme des Hauses selbst. Als Mittler zwischen den Zeiten und bedroht durch die Mitte-Gentry, bildet es die Konstante zwischen drei Jahrhunderten und besitzt ebenfalls einen Verfolgtenstatus. Dessen Ende ist abzusehen.

Fazit: ein toller Roman, souverän komponiert, spannend geschrieben. Pflichtlektüre nicht nur für Wedding-Fans!

Hardcover mit Schutzumschlag, 416 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-328-60016-9
Erschienen am 25. März 2019
€ 24,00 [D] inkl. MwSt. | € 24,70 [A] | CHF 33,90 * (* empf. VK-Preis)

Kleiner Kiez-Tipp: Kann man zum Beispiel in der Buchhandlung am Schäfersee bekommen!

 

 

 

 

We are the Robots: Hito Steyerl am Pariser Platz

Erhabene Orte hehrer Kunst: Wer sich dem barocken Stadtpalais am Pariser Platz nähert, das die Akademie der Künste beherbergt, begibt sich geradezu automatisch in Andachtshaltung. Hat man den mächtigen Vorraum mit moderner Beton-Stahl-Konstruktion durchschritten und die freundliche Dame am Eingang des Ausstellungsbereiches passiert, öffnet sich der lichte Museumsbau, der im Kern die Prägung durch den Architekten Ernst von Ihne in den 1903 bis 1907 erkennen lässt.

Schon die ersten Objekte der Hito-Steyerl-Ausstellung holen einen wieder auf den Boden der Tatsachen. Durchatmen. Hehres Kunstgefühl diffundiert. Monitore flimmern. Dokumentationen aus Krisengebieten wechseln mit einer Selbstinszenierung der Künstlerin auf dem Pariser Platz. Hier geht es um ein Thema, das die Menschheit bereits spätestens seit dem Beginn der Neuzeit bewegt: Mensch-Maschine in wechselnder Beeinflussung. Wie wirkt sich Robotereinsatz auf den Menschen aus.

Witzig reflektiert die Installation “Hell Yeah We Fuck Die” (2016) die Urangst vor dem Primat der machine: Hier sind es die Menschen, die Kampfroboter zum Schlingern und zu Fall bringen. Die aus Forschungsprojekten stammenden Videoschnipsel zeigen drollig wirkende wackelnde Apparate, teils animiert, teils im Realfilm. Ziemlich sicher geht es den Forschern aus dem Libanon und den USA darum, die Maschinen kampf- und standsicher zu machen, um eine alte Star-Wars-Fantasie Realität werden zu lassen. Doch noch stehen und gehen die Clone-Krieger auf eher schwachen Beinen.

Die zu dem Video-Material eingespielte Musik von Kassem Mosse, die auf die fünf häufigsten Worte in englischen Songtiteln seit 2010 Bezug nimmt, stellt eine direkte Verbindung zur Popkultur her.

Nachgedacht, geschmunzelt, gestaunt. Die Hoffnung, dieses Thema bliebe eines von Kunst und Popkultur, ist vergebens, der Einsatz von Robotern in Krisen- und Kampfggebieten längst Realität.

Hito-Steyerl-Ausstellung der Akademie der Künste: Käthe-Kollwitz-Preis 2019

Phantom

Mitternachtskino im Babylon

Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz

Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz

Mitternachtskino im Babylon: “Null Uhr, null Euro.” Diesem Motto kann nur widerstehen, wer nachtschläfrig ist, oder großstadtmüde, oder beides. Aber glauben Sie: Wie sollte man einen Sonntag besser beginnen als mit einem “Murnau” aus den 20-ern? Ich kann mir nach diesem Erlebnis nichts Besseres vorstellen.

Friedrich Wilhelm Murnaus Film “Phantom” (1922) nach einer Erzählung von Gerhart Hauptmann steht auf dem Programm. Das Babylon-Kino am Rosa-Luxemburg-Platz ist zu vier Fünfteln und damit für diese Nachtzeit gut gefüllt. Ein ebenfalls zu vier Fünfteln gefülltes Glas Rotwein begleitet die samtene Schwere, mit der man in den schönen alten Kinositz sinkt. Auf einem zwischen den Sitzen montierten Brettchen kann man das Weinglas abstellen.

Die Vorstellung beginnt. Hier gibt es sogar zu später Stunde eine persönliche Begrüßung in Form einer kurzen Ansprache, in der die Vorzüge des bald 90-jährigen Traditionshauses im Scheunenviertel hervorgehoben werden: Original Stummfilm-4:3-Leinwand im Goldrahmen und Live-Musikbegleitung an einer Original-Multiplex-Kinoorgel. Auch die Hinweis auf die Sammelbüchse am Ausgang darf nicht fehlen, ein freiwilliger Obolus wird erbeten. Dann geht es los.

Gerhart Hauptmann in

Der Meister …

… zeigt sich …

… seinem Publikum …

… mit der Insignie der Macht: dem Buch.

The author is present

Die erste Irritation: Gerhart Hauptmann posierte damals vor der Kamera. Mit einem Buch in der Hand, das wie ein symbolisches Attribut eines heiligen Autors wirkt.

Der Stummfilm bietet ein Erlebnis der besonderen Art. In der heutigen Zeit wirkt der Fortgang der Handlung etwas schwergängig. Der Plot ist recht simpel. Ein aus kleinen Verhältnissen stammender, bescheidener, junger kaufmännischer Angestellter, der als passionierter Buchliebhaber erste Schreibversuche unternimmt, die dem Anschein nach vielversprechend sind und das Gefallen einer älteren Gönnerin finden, lässt sich von einem Gaunerpärchen zu Betrug und Verbrechen anstiften. Er verbüßt eine Gefängnisstrafe und erhält eine zweite Chance: ein neues Leben an der Seite der Frau, die ihn wahrhaftig liebt und nicht nur ein unerreichbares Phantom darstellt. Happy End!

Happy End von

Happy End von “Phantom” (1922)

Wer bis dato glaubte, Schwarz-Weiß-Filme seien schwarz-weiß, wird eines besseren belehrt. Eine wechselnde duochrome Farbgestaltung spiegelt das Seelenleben der Protagonisten. Ganz am Ende altrosa für die glückliche Kirschblüten-Zweisamkeit der beiden Helden. Das wirkt zusätzlich verfremdend.

Überhaupt spannend, wie entrückt die Handlung ob der naturalistischen Grundauffassung des Autors der literarischen Vorlage wirkt. Die Darstellung der Stadtszenen wirkt eher expressionistisch denn naturalistisch gestaltet. “Natur plus x” … ein großes X. Und ein X, das den Film cool wirken lässt.

Multiplex-Orgel gibt Tiefe

Und dann die Musik von Anna Vavilkina auf der historischen Multiplex-Orgel: Vollendung der Synästhesie. Die Organistin greift in die Tasten, während sie das Geschehen auf der Leinwand verfolgt. Faszinierend, wie sie die Wellen des Films in der Musik aufnimmt. Die Leinwand saugt, die Orgel bläst. Und mittendrin schwimmt der Zuschauer, zwischen Skylla und Charybdis.

Der Film ist glücklich zu Ende gegangen. All diejenigen, die so lange durchgehalten haben, wanken Richtung Ausgang und dann durch das nächtliche Berlin. Mir ist klar: Ich muss wieder hin zu “Null Uhr, null Euro”. Ist vom Besten, das die Hauptstadt zu bieten hat.

Lettekiez las zum neunten Mal: das Beste zum Schluss

Ein Kiez liest. Oder besser: bekommt vorgelesen. Von August bis Oktober 2018 erlebte der Lettekiez zum neunten Mal einen abwechslungsreichen Leseherbst. Die letzte Lesung am 25.10.2018 brachte zwei recht gegensätzliche Meisterwerke der deutschen Literatur der Zwischenkriegszeit in der Buchhandlung am Schäfersee zusammen. Hans Falladas (1893-1947) Schullektüreklassiker “Kleiner Mann, was nun?” (1932) aus der Spätphase der Weimarer Republik traf auf Franz Hessels (1880-1941) Bohème-Roman “Heimliches Berlin” (1927).

Ulrich Schütter in der Buchhandlung am Schäfersee

Ulrich Schütter in der Buchhandlung am Schäfersee

Der erfahrene Lettekiez-Vorleser Ulrich Schütter verlieh mit seiner sonoren Stimme den beiden Zeitstudien der 20er-Jahre einen frischen Glanz, der die völlig unterschiedlichen, ja sogar konträren Blickwinkel auf diese schillernde Zeit sympathisch ausleuchtete.

Während Fallada mit seinem der Neuen Sachlichkeit verpflichteten Text das Schicksal der kleinen Leute plastisch nachzeichnet, heftet sich Hessel an die Fersen der Berliner Bohème der 20er-Jahre. Bei Falladas werdenden Eltern Johannes Pinneberg und “Lämmchen” steht der oft verzweifelte Versuch im Mittelpunkt, im kargen Berliner Alltag über die Runden zu kommen und um das kleine Glück zu kämpfen. Hessels Protagonisten taumeln im Rausch der pulsierenden Großstadt und schwanken zwischen rühmlichem Verarmen und der Anbetung eines fernen Luxus’ immer auf den Wellen phantastischer Träume dahin.

Großartig war auf jeden Fall die Auswahl der beiden Texte, die Ulrich Schütter wie Gift (Fallada) und Gegengift (Hessel) anordnete. Dieser Abend war auch deswegen sehr wertvoll, weil er die aktuelle “Babylon Berlin”-trunkene und deswegen auch sehr ferne Verehrung der 20-er Jahre um vielfache, entscheidende Facetten ergänzte. Pinneberg, Lämmchen, Wendelin, Margot, Karola … sie alle sind Kinder dieser Zeit und haben doch so völlig unterschiedliche Wünsche, Träume, gesellschaftliche Standpunkte und Lebenskonzepte. Die verschiedenen Perspektiven verdeutlichen einem erst so richtig das bunte Kaleidoskop-Bild dieser bald schon sagenhafte einhundert Jahre entfernten Zeit.

“Schwarz aus des Fensters gespenstischen Gittern …”: Das Gedicht, mit dem Ulrich Schütter den Abend einleitete, “Torbogen” von einem weiteren Zeitgenossen und Bohemien, Erich Mühsam (1878-1934), blinkte als rhetorischer Glanzstern über dem restlos gelungenen Abend. Große Vorfreude und Spannung auf 2019!

“Lettekiez liest” hatte auch 2018 ein spannendes Programm

Unio mystica in Stifters Hochwald

Adalbert Stifter lesen: Der Hochwald umfängt einen mit einer gültig-unendlichen Ruhe. Die Sinne werden durch den Lesestoff versorgt und gesättigt. Als reite man selbst der zerstörten Burg Wittinghausen entgegen und befände sich in der unentschiedenen Trugstille des ausgehenden Dreißigjährigen Krieges. Wie einer von durchsichtigem Stein umgossenen Fliege begegnet man den Personen und Taten in ihrer Mischung aus Dichtung und Wahrheit. Im Frühjahr war ich selbst im Böhmerwald und berührte die Steine der stolzen Burgruine. Ein Strahl von Zeit und Gefühl verbindet uns. Den Text, die Burg, mich.

Zucken von Licht und Leibern

Ein Wetter wie im April. Gerade scheint die Sonne. Vorhin regnete es Bindfäden. Die tiefschwarze, regennasse Straße glänzt neu im Sonnenschein.

Die Geräusche der Stadt werden gedämpft vom abflauenden Wind. Aus den Lautsprecherboxen im Nebenzimmer wummert der erdende Bass eines Technostückes, Dax J, Acid Ascention, sofort kommt die Assoziation dazu. Tanzender Organismus. Zucken von Licht und Leibern. Ein ruhiger Tag. Feiertag. In der Innenstadt begehen sie ein Fest, das Fest der großen Organismus, der uns alle verdaut.

Ein vorsichtiger Mensch läuft mit aufgespanntem Schirm über den Bürgersteig. Ein ruhiger Tag. Verdammt ruhig.



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Bienenmann im Puttensaal

bienenmann

Es ist dunkel. Wir sind mitten in Wedding. Im Puttensaal der Bibliothek am Luisenbad. Ein Mann sitzt an einem Tisch. Vor ihm liegt ein Buch. Eine Schreibtischlampe gießt ihr gleißendes Licht auf die Seiten. Gerade eben noch hatte die Saalbeleuchtung die lustigen Engelchen und das verspielte Deckenfresko angestrahlt. Doch nun ist es Nacht in dem herrlichen Saal. Der Autor beginnt zu lesen. Langsam gewöhnen sich die Augen an die Finsternis. So finster wie die Welt, in die uns der Text bringt.

Brutaler Einbruch in die Idylle

Blitzschnell sind wir Zuhörer angekommen. Elias Mattay führt uns in der Anfangssequenz seines ersten Thrillers “Der Bienenmann” an einen idyllischen See bei Potsdam und zugleich an die Abgründe des Menschlichen. Noble Villengegend im November. Ein Kind legt ein Puzzle. Aus dem nebligen Garten kommt der Bienenmann, ein als Imker verkleideter Mörder und Kindesentführer, und bricht in diese Idylle ein. Er schlägt brutal zu. Damit beginnt sich das hochspannende Kaleidoskop des Autors zu drehen. Beeindruckend, über wie viele Register Elias Mattay verfügt. Ob seine messerscharf gezeichneten Porträts, die knappen, packenden Spannungssequenzen, die mit glaubhafter Psychologie extreme Brutalität in der Wahrnehmung eines Kindes darstellen, oder andererseits die satirischen Einlagen wie die Zurechtweisung der italienischen Techno-Kids in der illegalen Ferienwohnung des Schöneberger Nachbarn von Kommissar Roman Baer, eines “Wasserbauingenieurs, der sich in Indien aufhielt oder in Afrika oder Aserbaidschan oder Timbuktu.”

Mit seinem Protagonisten Baer schafft Mattay einen stimmigen Charakter, der nicht nur an seinen dienstlichen Bezügen leidet, sondern auch als Ehemann seine Sorgen und Nöte hat. Sehr einfühlsam und umsichtig kümmert er sich um seine an den Folgen eines Schlaganfalls leidende Frau Corinna, für die er sich in der Vergangenheit sogar ein Jahr Auszeit genommen hat. Kurzum, ein sympathischer, bedächtiger, brummiger Berliner “Bär”, dieser Roman Baer.

Souveräner Vorleser

Und noch einen Satz zum Vorleser Elias Mattay: diese Stimme – ruhig, einfühlsam, lebendig betonend, mimetisch, verschiedene Töne imitierend, dialektale und fremdsprachliche Besonderheiten souverän umsetzend. Ein Genuss, dem Autor gut über eine Stunde zuzuhören, bis das Licht wieder angeht und die Putten an der Decke mit dem Autor um die Wette strahlen.

“Der Bienenmann” ist nicht nur ein hochspannender Regionalkrimi – einige Szenen spielen übrigens in Madrid –, das Buch ist ein höchst lesenwertes Stück Literatur. Mein Aufruf, nicht nur an Berliner: Lesen!

Elias Mattay: Der Bienenmann. Kriminalroman
Berlin Verlag Taschenbuch
€ 12,99 [D], € 13,40 [A]
Erschienen am 12.01.2017
480 Seiten, Broschur
ISBN: 978-3-8333-1084-3